Wie viele technischen Entwicklungen hat auch die Raumfahrt keinen echten Beginn, sondern viele Meilensteine. Der 3. Oktober 1942 ist sicherlich ein sehr wichtiges Datum, denn der erfolgreiche Start einer Rakete vom Typ A4 von der Ostseeinsel Usedom markierte das Ende einer langjährigen Konstruktion einer funktionsfähigen Rakete, deren technisches Grundprinzip letztlich von denselben Ingenieuren bis zur Mondrakete Saturn V weiterentwickelt wurde. Auf Usedom, genauer in Peenemünde, hatte Wernher von Braun mit Hilfe der Nationalsozialisten ein beispielloses Technologiezentrum erschaffen, deren wichtigstes Produkt die A4 war. Als 1992 in Peenemünde diesem für die Raumfahrt so bedeutsamen Tag gedacht werden sollte, reagierte die Presse verwundert: "Ein Sektempfang für 20.000 Tote?", titelte die Nachrichtenagentur Reuters. Der Grund für diese Reaktion war, dass das Aggregat 4 (A4) im Chargon der Nazis nichts anderes als die Wunderwaffe V2 war. Das V steht für Vergeltungswaffe, die V1 war nach der Zählung der Militärs eine Flugbombe, also eine Cruise Missle, wie wir heute sagen würden. Die 20.000 von Reuters erwähnten Opfer kamen beim Einsatz der V2 vor allem in London und Antwerpen zu Tode. Diese Episode zeigt das moralische Dilemma, in dem sich die Raumfahrt und ihr Konstrukteur Wernher von Braun von Anfang an befinden. Aber es kommt noch schlimmer: Um die V2 im großer Zahl einsetzen zu können, entstand im Harz eine unterirdische Fabrik, in der tausende Häftlinge aus dem KZ-Dora als Arbeiter eingesetzt wurden und dabei elendig krepierten. Die traurige Ironie der Geschichte ist, dass die V2 nie eine militärisch sinnvolle Waffe war, denn es gab ja noch keine atomaren Sprenköpfe. Der Aufwand für Entwicklung und Produktion der Wunderwaffe stand zu keiner Zeit in einem "gesunden" Verhältnis zu ihrer Wirkung. Bei der Produktion der Rakete starben mehr Menschen, als bei ihrem Einsatz. Hätte das Hitler-Regime die Recourcen für Peenemünde und Mittelbau zum Beispiel in die Flugzeugproduktion gesteckt, hätte sich der Krieg womöglich noch länger hingezogen.
Die Trennung von Entwicklungsstandort Peenemünde auf Usedom einerseits und Produktionsstandort Mittelbau-Dora in Thüringen andererseits war für die Ingenieure um Wernher von Braun immer ein gutes Argument für ihre Unschuld; sozusagen ein geographisches Abbild des Messerarguments von oben. Sie haben ja schließlich nur entwickelt, die menschenvernichtende Produktion lag an einem anderen Ort in den Händen der SS. Diesen Mythos konnte Wernher von Braun lange aufrecht erhalten und auch Stefan Brauburger schreibt in seinem Buch nicht eindeutig darüber, was von Braun nun über die Zusände in Dora genau wusste. Nach dem sein Lebenstraum in Erfüllung ging, öffnete sich der ältere Wernher von Braun gelegentlich. So teilte er in einem Interview dem Sciencefiction-Autor Arthur C. Clarke mit:
"Ich habe nie gewusst, was in den Konzentrationslagern vor sich ging. Aber ich hatte einen entsprechenden Verdacht und in meiner Position hätte ich es herausfinden können. Ich tat es nicht und verachte mich selbst dafür."Dass er wirklich nichts wusste bestreitet der Autor, denn von Braun hat das Werk nachweislich mehrmals besucht. Doch war der Punkt zur Umkehr so oder so längst überschritten. Die Frage, was Wernher von Braun überhaupt noch hätte tun können, wird auch von Stefan Brauburger so nicht gestellt. Der Versuch Wernher von Brauns sich nach dem Krieg einen neuen "reichen Onkel" zu suchen, der seine Träume finanziert und dabei die Nazizeit hinter sich zu lassen, kann ich besser nachvollziehen, als die nachträglich an Leuten wie von Braun gestellte Forderung inmitten von Nazis gegen Nazis den moralischen Zeigefinger zu heben. Man darf auch nicht vergessen, dass bei allem Missfallen an der Politik der Nazis Wissenschaftler wie Wernher von Braun oder Werner Heisenberg sich als Deutsche verstanden haben, für die es selbstverständlich war, an der Heimatfront ihren Dienst zu verrichten - immernoch besser als an der echten Front. "Kriegswichtig" zu sein war eine Überlebensstrategie und ob das ganze Ausmaß an Verbrechen schon zu dessen Beginn absehbar war, wage ich zu bezweifeln.
Das Wechselspiel ging für Wernher von Braun jedenfalls auf, der neue "reiche Onkel" hieß Amerika und das technische Wissen von Wernher von Braun und seinem Team war der neuen Supermacht wichtiger als die Frage nach deren Verstrickungen im Nazi-Regime. Das Ausblenden der Historie ging auch erstaunlich lange gut. So hat noch Willy Brandt in einem Werbespot für die SPD darüber geschimpft, dass Genies wie Wernher von Braun in Amerika arbeiten müssen und nicht hier in Deutschland ein Auskommen finden können. Selbst die Aussagen der überlebenden Strafarbeiter und der V2-Angriffe auf London und Antwerpen, die der Autor Stefan Brauburger zitiert, schwingen merkwürdig zwischen dem Schmerz des Erlebten und der Bewunderung für die Leistung des deuschen Ingenieurs, der die Mondlandung ermöglicht hatte, hin und her.
Neben seinem Knowhow mag es drei Gründe geben, die Wernher von Braun so überaus amerikakompatibel gemacht haben: Er hatte einen Traum und im Land der Freien liebt man Macher mit Visionen. Außerdem war er ein guter Verkäufer, der jeden Politiker, von Hitler bis Kennedy, sowie das amerikanische Lese- und Fernsehpublikum begeistern konnte. Stefan Brauburger zitiert hierzu unter anderem Wernher von Brauns Neffen:
"Wenn Sie das mal erlebt haben, dass jemand so zu seinem Traum steht. Dass er gar nicht anders konnte eigentlich. Ich glaube, im Wachen und im Schlafen, war das immer präsent bei ihm: Der Mond. Die Reise zum Mond. Die bemannte Weltraumfahrt."Ganz wichtig für Erfolg in Amerika ist aber gutes Aussehen. So zitiert Stefan Brauburger Wernher von Brauns langjährige Sekretärin Dorette Schlidt:
"Die Ausstrahlung, die er hatte, und das manchmal fast Unbekümmerte, Jungenhafte an ihm. Er sah ja wirklich blendend aus, wir haben immer gesagt, wie ein griechischer Gott, der ganze Mensch."Angesichts solcher Beschreibungen wird es verständlich, dass noch lebende ehemalige Freunde von Brauns, wie beispielsweise Jesco von Puttkamer, entgegen jeder Erkenntnis immernoch äußerst empfindlich reagieren, wenn die Historiker heute den braunen Schmutz unter der weißen Toga des griechischen Gottes hervorkehren.
Als raumfahrtinteressierten Leser erscheint mir das Buch von Stefan Brauburger merkwürdig unvollständig. Man merkt auch, dass der Autor weder von Raketen, noch von Raumfahrt wirklich Ahnung hat. Da er aber diese technische Seite nur wenig betont, stört das beim Lesen kaum. Enttäuscht ist nur derjenige Leser, der erwartet, die funktionsweise der A4 und ähnliches erklärt zu bekommen. Da sich der Autor mit solchen Dingen nicht beschäftigt, ist sein Buch leicht und flüssig lesbar. Auch das abgelutschte Bild von Mephisto und dem Zauberlehrling, das der Autor am Anfang bemüht, verläuft sich gottseidank recht schnell. Das Buch ist ideal gerade auch für Leser, die sich noch nicht mit der erstaunlichen Biographie Wernher von Brauns beschäftigt haben. In seinem Fazit betont Stefan Brauburger nochmal die Verantwortung der technischen Elite:
"Als eine Schlussfolgerung aus dem Werdegang steht die Erkenntnis, dass Technik, Macht und Moral eben keineswegs in Parallelwelten stattfinden, sondern ineinandergreifen. Der "Technokrat" als reines Funktionswesen ist passé, man muss von einem verantwortungsvollen Forscher und Wissenschaftler der Gegenwart ganzheitliches, nachhaltiges und sozial verträgliches Handeln erwarten - auch in seiner Eigenschaft als mündiger Bürger."Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich viele Biographien von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren gerade aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lesen. Mich persönlich fasziniert an Wernher von Braun aber vor allem seine Beharrlichkeit in der Verfolgung seines Traums und sein radikaler Opportunismus. Seine Erfolge und deren Folgen machen sein Leben auch literarisch sehr interessant.
Als Raumfahrtenthusiast fasziniert mich an Wernher von Braun auch seine Eigenschaft als Astrofuturist. Als Ingenieur stammt er aus einer Zeit, in der mittels Technik Grenzen überwunden wurden. Vom ersten Atlantikflug, zu den Polen der Erde zu grundlegenden Innovationen in Autmobilbau und Eisenbahn. Zur Zeit Wernher von Brauns gestaltete der Maschinenbau das Leben der Menschen ähnlich um, wie heute das Internet. Der Flug zum Mond war letztlich in diesem Kontext eine Denknotwendigkeit, etwas, was es zu tun galt. Es ist faszinierend, wie der Kalte Krieg, diese schon in der Nachkriegszeit antiquierte Machbarkeitsfantasie konserviert und beflügelt hat. Das man dies so sehen kann, beweist die vorzeitige Einstellung des Apollo-Programms und die Tatsache, dass wir seit dem nie wieder den Erdorbit verlassen haben. Wir brauchen nicht einen neuen Ingenieur wie Wernher von Braun, sondern einen verwandten Zeitgeist, in dem er aufgewachsen ist, wenn wir wieder Grenzen überschreiten wollen.
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