So was hatten wir schonmal: Ein großer Wissenschaftler soll Opfer eines Verbrechens geworden sein, was wir aber erst heute, also Jahrhunderte später herausfinden. In dem Buch Der Fall Kepler war der Astronom Tycho Brahe das Opfer und sein Mitarbeiter Johannes Kepler der angebliche Täter. Sein Motiv sollen die Beobachtungsdaten Brahes gewesen sein, die Kepler für seine weitere Arbeit dringend benötigte. Im Falle von René Decartes ging es wohl eher darum, ihn zum Schweigen zu bringen. Sein aufgeklärter Rationalismus stellte eine Gefahr für die Klerikalen dar. So verstehe ich jedenfalls Theodor Ebert, der in seinem Buch Der rätselhafte Tod des René Descartes den Fall nochmals aufrollt.
Dem Humanistischen Pressedienst (hpd) stand der Buchautor Theodor Ebert Rede und Antwort. Das Interview gebe ich hier ungekürzt wieder:
hpd: Dass ein Kriminalfall nach 30 Jahren neu aufgerollt wird, haben wir vor wenigen Wochen wieder einmal erlebt. Aber welche Möglichkeiten zur Aufklärung einer Tat bestehen denn, wenn das mutmaßliche Verbrechen über 350 Jahre zurück liegt?
Theodor Ebert: Die Möglichkeit zur Aufklärung hängt im untersuchten Fall so gut wie ausschließlich von den zur Verfügung stehenden Quellen ab. Was diesen Fall angeht, so verfügen wir glücklicherweise über eine Reihe von Dokumenten sowohl zum Krankheitsverlauf wie auch zur Einstellung und zur Rolle des vermutlichen Mörders. Durch eine Zusammenführung dieser Zeugnisse ergibt sich ein Bild, das einen Giftmord an Descartes in sehr hohem Maße wahrscheinlich, um nicht zu sagen, fast sicher macht.
hpd: Allerdings spricht gegen die These einer Ermordung Descartes’, dass sämtliche Zeugen aus dieser Zeit, einschließlich des Briefautors Johann van Wullen und des ersten Descartes-Biographen Adrien Baillet, von einem natürlichen Tod ausgehen...
Theodor Ebert: Es war für die Personen in Descartes’ unmittelbarer Umgebung, aber auch für Adrien Baillet, der vierzig Jahre nach dem Tode Descartes’ eine sehr faktenreiche Biographie verfasst, kaum möglich, eine Ermordung Descartes’ zu behaupten. In Stockholm hätte eine solche Behauptung sowohl für den französischen Botschafter Chanut, bei dem Descartes Wohnung genommen hatte, als auch für den schwedischen Hof, an den Descartes von der Königin Christina eingeladen worden war, zu einem unglaublichen Skandal geführt. Und wer eine solche These aufgestellt hätte, würde sich möglicherweise um seine Stellung, vielleicht auch um Kopf und Kragen gebracht haben. Schließlich war eine Tötung durch Arsenik ohne ein Geständnis des Mörders damals ohnehin nicht zu beweisen. Den Personen, die am Hof Christinas tätig waren, fehlten im Jahre 1650 überdies Kenntnisse zu Umständen, die für das Motiv des vermutlichen Mörders aufschlussreich sind. Charakteristisch ist die Bemerkung eines der Philologen am schwedischen Hof: „Auf welche Weise er“ – also René Descartes – „zu Tode gekommen ist, das ist hier wirklich ein Rätsel.“ Diese Personen konnten allenfalls von der Vermutung einer Vergiftung berichten und haben das auch getan. Was Baillet angeht, so ist er zwar im Besitz von Kenntnissen, welche den Gelehrten an Christinas Hof im Jahre 1650 noch nicht zur Verfügung standen, aber er kann gerade wegen der Person, die er wohl verdächtigt – es handelt sich immerhin um einen katholischen Geistlichen – im Frankreich Ludwigs XIV. einen konkreten Tatverdacht nicht äußern. Bestimmte Reaktionen auf seine Darstellung lassen aber erkennen, dass seine Zeitgenossen hinter der Darstellung eines natürlichen Todes durch Lungenentzündung hier durchaus die Geschichte eines nicht natürlichen Todes gelesen haben.
hpd: Was steht denn nun „zwischen den Zeilen“ der uns heute vorliegenden Berichte über Krankheit und Tod René Descartes’?
Theodor Ebert: Die wichtigste Information ist die Mitteilung durch den Arzt Johann van Wullen, dass Descartes, der über medizinische Kenntnisse verfügte, während seiner Krankheit ein Brechmittel verlangt. Bei einer Lungenentzündung oder einer anderen Erkrankung des Brustraumes wäre das kaum eine angezeigte medizinische Maßnahme – wohl aber bei einer Vergiftung. Auch die berichteten Symptome sowohl in dem Brief des Arztes van Wullen als auch in dem Bericht, den Descartes’ Kammerdiener und Sekretär Heinrich Schlüter verfasst, stimmen mit den Symptomen einer Arsenikvergiftung überein. Beide Dokumente sind übrigens einen Tag nach dem Tod aufgezeichnet worden.
hpd: Das klingt durchaus plausibel. Bei der Suche nach dem Mörder sind Sie allerdings in stärkerem Maße auf Vermutungen, die sich heute kaum mehr belegen lassen dürften, angewiesen. Was gibt Ihnen die Sicherheit, mit Ihrer These richtig zu liegen?
Theodor Ebert: In der Tat hat man es hier nicht mehr mit Berichten über beobachtete Symptome und über das Verhalten und die Äußerungen des Kranken selbst zu tun. Hier geht es vielmehr um Zeugnisse, die großenteils nicht unmittelbar nach der Krankheit entstanden sind, sondern oft Jahre, zum Teil auch erst Jahrzehnte später. Jedes dieser Dokumente für sich genommen würde für einen begründeten Verdacht nicht ausreichen, aber in ihrer Summe ergeben sie doch einen starken Verdacht, der über bloße Vermutungen hinausgeht. Anzumerken ist an dieser Stelle natürlich auch, dass ein Teil der einschlägigen Zeugnisse erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts publiziert worden ist und dass sie nicht gerade im Focus der akademischen Descartes-Forschung standen, weil es sich um kirchengeschichtliche Texte, um Protokolle der päpstlichen Kongregation Pro propaganda fide, handelt.
hpd: Und was wäre in Ihren Augen eine akzeptable Widerlegung Ihrer These?
Theodor Ebert: Widerlegt wäre die These, soweit es sich um die Symptomatik der Erkrankung handelt, wenn sich das Krankheitsbild plausibel als durch natürliche Einflüsse verursacht erklären ließe, wenn man insbesondere eine Vergiftung sicher ausschließen könnte. Widerlegt wäre die These, was den vermuteten Mörder angeht, wenn sich für das Verhalten des Verdächtigen selbst wie auch das seiner sozialen Umgebung ihm gegenüber, etwa durch bislang nicht bekannte (oder von mir nicht berücksichtigte) Dokumente, eine plausible alternative Erklärung finden ließe.
hpd: Nun ist die Auffassung, René Descartes sei vergiftet worden, ja nicht völlig neu. Vor rund 15 Jahren hat Eike Pies denselben Verdacht bereits in einem Buch vorgetragen. Damals haben sich zwar die Medien der Sache angenommen, in Fachkreisen scheint die Veröffentlichung aber keine große Wirkung hinterlassen zu haben. In den einschlägigen Biographien ist nach wie vor von einer Lungenentzündung als Todesursache zu lesen. Warum ist das so?
Theodor Ebert: Dass die akademische Descartes-Forschung sich mit der These von Pies nicht auseinandergesetzt hat, dürfte mehrere Gründe haben. In erster Linie den Umstand, dass Pies sich für den Entdecker des Briefes von van Wullen hält, obwohl dieser Brief unter anderem bereits in der großen Descartes-Ausgabe von Charles Adam und Paul Tannery publiziert war. Allerdings würde dieser archivalische Irrtum es noch nicht rechtfertigen, die davon ja unabhängige medizinische Interpretation dieses Textes durch Eike Pies zu ignorieren. Dafür könnte der Umstand mitverantwortlich sein, dass Pies bei der Transkription des Textes von van Wullen ebenfalls Fehler unterlaufen sind, und dass das Buch auch sonst eine Reihe von Ungenauigkeiten und unkorrekten Angaben aufweist. Schließlich der Umstand, dass Pies andere Zeugnisse praktisch nicht berücksichtigt. Allerdings ist die These, dass Descartes ermordet wurde, für die eher hagiographische und im Übrigen stark durch katholische Forscher bestimmte französische Descartes-Forschung auch ein ziemlich harter Brocken. ist allerdings auch, dass eine vergleichende Analyse der Dokumente zu Krankheit und Tod Descartes’ in der offiziellen Descartes-Forschung meines Wissens bisher nie vorgenommen worden ist.
hpd: Nehmen wir an, Sie haben Recht und Descartes wurde vergiftet: Welche Bedeutung hätte das für die Philosophiegeschichte?
Theodor Ebert: In negativer Hinsicht einfach die triviale Bedeutung, dass Descartes’ früher Tod mit 56 Jahren ihn an der Abfassung weiterer Werke gehindert hat. Die meisten der bekannten Philosophen seiner Zeit, die eine ähnlich robuste Gesundheit hatten, erreichen ein höheres Alter: Thomas Hobbes wurde 91, Galilei 77, Gassendi 63, Leibniz 70 Jahre. Spinoza und Pascal sind wegen ihrer kränklichen Konstitution nur scheinbare Ausnahmen. Allerdings würde sich an der Interpretation der zu Lebzeiten Descartes’ wie auch der postum erschienenen Werke selbst dadurch gar nichts ändern. Etwas anders sieht die Sache aus, wenn eine bloße, aber durch bestimmte Umstände nahegelegte Vermutung sich bestätigen ließe, die ich am Ende in einem Postskript vorbringe: Danach hätte der vermutliche Mörder des französischen Philosophen den Anstoß dazu gegeben, dass Descartes auf den „Index der verbotenen Bücher“ kam, also von Katholiken nicht mehr ohne weiteres gelesen werden durfte. Denn mit dieser Zensurmaßnahme war zumindest für die Länder Europas, die durch die katholische Gegenreformation geprägt waren, der Einfluss der cartesianischen Philosophie eingeschränkt, und das ist für die Philosophiegeschichte natürlich von Bedeutung. Aber diese Vermutung bedürfte noch einer genaueren Überprüfung an Archivmaterialien unter anderem in Italien.
Quelle: Humanistischer Pressedienst (hpd.de). Das Interview führte Martin Bauer.
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