Lesepräservative

Auf der ATT in Essen

Dieses Wochenende hatte ich gleich zweimal realen Kontakt zu Lesern von Astronomie- und Raumfahrtbüchern, die mir sonst nur virtuell via Internet begegnen: Am Samstag auf der Astronomiemesse ATT in Essen und am Sonntag in Heidelberg am Tag der offenen Tür des Max-Planck-Instituts für Astronomie. Dabei bin ich wieder auf ein für mich sehr erstaunliches Phänomen gestoßen, nämlich die Neigung der Deutschen, ihre Bücher in Folie einzuschweißen. Zusammen mit ihrer Neigung Wasser aus Flaschen zu trinken verhagelt dies die Umweltbilanz der ach so ökologischen deutschen Weltvorbildweltmeister.

In der Praxis läuft das so ab: Der Kunde fragt höflich, ob er denn mal in das Buch hineinschauen darf. Klar darf er, also entfernt man für ihn die Folie. Ist der Kunde nach reichlichem und kritischen Studium gewillt das Buch zu kaufen, greift er natürlich nach einem noch eingeschweißten Exemplar, was ich schonmal unlogisch finde, denn woher will er wissen, dass dieses Buch nicht zum Beispiel verheftet ist? Aber wie dem auch sei, der nächste Kunde prüft das nun ungeschützt daliegende Buch ebenfalls - lang und kritisch. Angenommen, jetzt liegt aber kein eingeschweißtes Buch mehr bereit, dann entsteht ein Dilemma in Loriot-Manier: Eigentlich will er das Buch haben, aber so ganz ohne Leserpräservativ ist ihm das offensichtlich unheimlich. Also fragt er nach: "Haben Sie dieses Buch noch eingeschweißt?" oder noch schlimmer: "Haben Sie nur noch das Ansichtsexemplar?". Antwortet man mit "nein und ja", sagt der gewillte Leser: "Kann ich es dann billiger haben? Sonst hole ich es mir woanders." Ich meine, was denken sich diese Leute? Meinen die ernsthaft, jeder Buchhändler hält für jedes Buch extra ein "Ansichtsexemplar" bereit? Wer sollte denn diesen Mehraufwand bezahlen? Meinen diese Leute wirklich, ein Buch verliert an Wert und muss billiger verkauft werden, weil die Folie fehlt? Wird denn umgekehrt das Gemüse auf dem Wochenmarkt teurer, weil es in Zeitungspapier eingewickelt ist, womöglich sogar die aktuelle Tageszeitung? Übrigens: Ein Buch billiger zu verkaufen, nur weil die Folie fehlt, ist ein klarer Verstoß gegen das Buchpreisbindungsgesetz.

Ganz schlimm ist, dass diese Leute sich auch oft nicht vorstellen können, dass es Verlage gibt, die ihre Bücher gar nicht einschweißen. Es gibt sogar Leute, die schicken ihre Bücher mit der Post zurück, weil die Folie gefehlt hat und sie daher meinten, die Bücher seien gebraucht! Sie verlangen dann vehement ein "eingeschweißtes Exemplar", völlig egal, ob der betreffende Verlag das Buch eingeschweißt liefert oder nicht.

Hier meine Theorie: Menschen, die Bücher wirklich lesen, die mit ihnen arbeiten, sind nicht primär am Zustand des Buches interessiert. Wenn es spannend, interessant oder für sie schlichtweg wichtig ist, dann reicht es völlig, dass das Buch einigermaßen ordentlich aussieht. Der Inhalt zählt und sie wissen, haben sie das Buch erstmal erworben, wird es in kürze sowieso gelesen und abgegriffen aussehen.

Dann gibt es aber auch die nervige Minderheit unter den Kunden, die nur selten Bücher erwerben. Für sie sind Bücher keine Arbeitsmittel sondern Schmuckstücke für den Intellekt oder schlicht Aushängeschilder. Sie haben aufgeräumte Bücherregale mit vielen schönen Bildbänden, wunderbar repräsentativ und wenn einmal im Jahr der Strom ausfällt und der Fernseher zwangsweise erkaltet, greifen sie im Kerzenschein danach und seufzen: "Hach, man sollte mehr lesen". Richtig so: Bücher soll man lesen, nicht anschauen! Bücher sind nur ohne Präservativ wirklich fruchtbar.

Am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg

1 Kommentar:

  1. Ich bestelle öfters Bücher aus England und die sind oft AUCH in Folie eingeschweißt. Auch in Frankreich werden Bücher öfters in Folie eingeschweißt.

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