10 Jahre ISS oder SHLAY-guhl im All


Vor zehn Jahren, am 20. November 1998 startete das russische Modul Sarja (links im Bild) mit einer Proton Rakete vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur. Wenig später, am 4. Dezember, startete das Space Shuttle Endeavour zur Mission STS-88, um das amerikanische Modul Unity mit Sarja zu verbinden. Dies war die Geburtsstunde der internationalen Raumstation ISS, die seit November 2000 durchgehend bemannt ist. Man darf also zum zehnjährigen Jubiläum gratulieren.
In den Medien findet die Raumstation in der Regel nur statt, wenn Pannen geschehen. So ist, pünktlich zum Jubiläum, der Astronautin Heidemarie Stefanyshyn-Piper bei ihrem Außenbordeinsatz in der Schwerelosigkeit ein Missgeschick passiert: der Werkzeugkasten driftete ihr davon. Dies war nicht weiter schlimm, hatte doch ihr Astronautenkollege Steve Bowen Ersatzwerkzeug mit nach draußen genommen, doch prompt findet die ISS wieder in den Medien statt: Ulknudel Anke Engelke verkündet auf SWR 3, wie "reizend" sie es findet, dass die Astronautin "nicht hysterisch wird", weil sie im All ihre "Handtasche" verliert. Wie stellt Frau Engelke sich denn einen so genannten Weltraumspaziergang vor? Das ist sicherlich nicht die Art von Spaziergang, bei der man hysterisch werden sollte und Hysteriker werden sicherlich auch nicht Astronauten. Die neue Weltraumexpertin des SWR erzählt dann noch jede Menge Halbwahrheiten über die Astronautin Stefanyshyn-Piper, beispielsweise, dass sie zur Marine wollte, aber wegen schlechter Augen nicht genommen wurde, weshalb sie wohl auch die "Handtasche" verloren hat ... Hierzu fällt mir nur noch der Dieter Nuhr'sche Imperativ ein:
Boshaft tendenziös ist auch der Artikel Außerirdischer Baukasten auf Zeit-online. Dort "trudelt" die ISS durchs All, als hätte die Flugkontrolle zu viel Wodka oder Whiskey getrunken und das Versorgungsraumschiff ATV wird zur "europäischen Mülltonne". Schlagzeilen macht laut Zeit-online die ISS eh nur, wenn zum Beispiel die Toilette kaputt geht, während die wissenschaftlichen Ergebnisse eher mau seien. Diese Art von medialer Selbstbetrachtung geht mir unglaublich auf die Nerven: statt sich selber mal die Mühe zu machen, wissenschaftliche Experimente auf der ISS zu recherchieren, erinnert sich der Zeit-"Journalist" einfach nur an Berichte über kaputte Toiletten, die er dann wieder zitiert.



Soweit meine Aufregung des Abends, jetzt zum eigentlichen Thema: SHLAY-guhl im All

Als "SHLAY-guhl" wird der deutsche Astronaut Hans Schlegel im NASA-Handbuch geführt, damit den amerikanischen Kollegen die korrekte Aussprache gelingt. So schreibt es Dirk H. Lorenzen in seinem neuen Buch "Raumlabor Columbus - Leben und Forschen auf der Internationalen Raumstation". Dirk Lorenzen ist ein Journalist, der seine Hausaufgaben macht. Mit erfreulicher Regelmäßigkeit erscheinen im Kosmos-Verlag Bücher über aktuelle Weltraummissionen von ihm, zuletzt über das Duo Cassini/Huygens, jetzt über das europäische Duo Columbus/ATV. Diese beiden Beiträge der europäischen Raumfahrt zur ISS bilden die Schwerpunkte in seinem Buch. Da der Autor als Journalist vor Ort recherchiert ist das Buch sehr lebendig: voller Annekdoten wie die von "SHLAY-guhl" und O-Tönen vor allem derjenigen Ingenieure, die Columbus und ATV möglich gemacht haben. Dabei ist das Buch nie trocken oder unkritisch, auch wenn der wohl unvermeidbare Raumfahrt-Pathos gelegentlich durch die Buchseiten weht. Dirk Lorenzen beschreibt kritisch, wie wenig die ISS von den Versprechungen hält, mit denen die Amerikaner ihre Raumstation Freedom einst propagierten: Die ISS ist vor allem auch ein politisches Projekt und statt Fabriken und Forschungseinrichtungen zu betreiben sind die Astronauten zu einem großen Teil ihrer Arbeitszeit mit sich selbst und der Station beschäftigt. Dieser Umstand liegt nicht nur in der Bauverzögerung durch den Columbia-Absturz begründet. Dennoch zeigt Lorenzen auf, was dank dem Weltraumlabor Columbus alles möglich sein wird, wenn die ISS-Stammbesatzung erstmal auf regulär sechs Personen angewachsen ist. Sehr schön finde ich zum Beispiel seine Beschreibung des Experiments Geoflow der Universität Cottbus. Mit diesem Experiment sollen die Strömungsverhältnisse im flüssigen Erdkern nachgestellt werden, der den festen Kern umgibt und dabei rotiert. Dazu wird gewissermaßen ein Modell des Erdinneren gebaut und der Schwerelosigkeit des Columbus-Raumlabor ausgesetzt. Die Gravitation wird im Experiment durch elektromagnetische Kräfte ersetzt. So entsteht also im Raumlabor Columbus ein frei schwebendes Erdmodell, an dem sich das Verhalten des flüssigen Erdkerns studieren lässt.
Dank dem Buch von Dirk Lorenzen ist mir nun auch klar worin die Leistung des automatischen Transportvehikels (ATV) Jules Verne besteht: das ATV fliegt völlig autonom, also nicht einfach nur ferngesteuert. Niemand in der Bodenkontrolle hat einen Joystick, vielmehr befielt man dem ATV die ISS anzufliegen und anzudocken und hofft, dass das ATV das richtig macht - und es hat es richtig gemacht! Das ist jedenfalls mehr als man von einem fliegenden "Mülltonne" erwartet. Entweder wissen es die Schreiberlinge der Intellektuellenpostille Die ZEIT nicht besser oder sie sind so verliebt in ihre trolligen sprachlichen Vergleiche, dass es sie nicht weiter kümmert. Wie man über Raumfahrt spannend und doch informativ schreiben kann, können sie bei Dirk Lorenzen lernen. Das Buch "Raumlabor Columbus - Leben und Forschen auf der Internationalen Raumstation" kann ich nur wärmstens empfehlen und dabei habe ich noch gar nichts über die hervorragende Bebilderung gesagt (231 farbige Abbildungen).

Das Buch "Raumlabor Columbus - Leben und Forschen auf der Internationalen Raumstation" von Dirk Lorenzen gibt es in jeder ordentlichen Buchhandlung (ISBN 978-3-440-11711-8). Es kostet derzeit € 34,90 und ist jeden Cent wert.

1 Kommentar:

  1. Man kann es auch anders als Dieter Nuhr formulieren:
    http://www.youtube.com/watch?v=57PWqFowq-4

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