Entzauberte Welt


Rückblickend auf die letzten zehn Jahre können wir feststellen, dass mit dem neuen Jahrtausend ein neues Zeitalter des Irrationalen begonnen hat. Wir haben Kreuzzügler, Glaubenskrieger, Banker, die ihr eigenes Business nicht verstehen und eine Jugend, die ihre Bildung aktiv einfordern muss. Man hat den Eindruck, die Vernunft hält ein Mittagsschläfchen und gebärt Ungeheuer – nur Andreas Müller ist noch wach.

Das zwanzigste Jahrhundert hingegen war ein Jahrhundert der Wissenschaft: Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Genetik, Plattentektonik und der Flug zum Mond sind nur ein paar Schlagwörter, welche die enorme Wissensexplosion beschreiben, die in den letzten hundert Jahren von statten ging. Damit einher wuchs das Vertrauen und das Selbstverständnis, dass es in der für uns erfahrbaren Realität keine Bereiche gibt, die sich unserem wissenschaftlichen Erkenntnisvermögen entziehen. Das heißt nicht, dass wir alles verstehen, sondern das heißt, dass es nichts gibt, was wir aus prinzipiellen Gründen nicht verstehen können. Diese Entzauberung der Welt empfinden viele Menschen als Verlust, sie erschrecken über solch klare Resümees wie beispielsweise das von Steven Weinberg am Ende seines Buches Die ersten drei Minuten
„Je besser wir das Universum verstehen, desto sinnloser erscheint es.“

Mit der Wissenschaft geht demnach also ein Sinnverlust einher. Moderne Beschreibungen des Lebens und der Welt lassen kaum Platz für metaphysische Konzepte wie Seele, Paradies, Götter und Dämonen. Der Philosoph Bernulf Kanitscheider nimmt sich in seinem Buch Entzauberte Welt – Über den Sinn des Lebens in uns selbst kritisch dieser Sinnfrage an. Kritisch insofern, dass der Satz von Weinberg ja zwei Vorstellungen enthält, die es zu hinterfragen gilt. Zum einen, woher eigentlich die Idee kommt, ein Universum könnte Sinnträger sein und zum anderen was wir eigentlich mit der Vorstellung von Sinn meinen.

Dass das Universum unsere Rufe nach Sinn nicht beantwortet, führt zum Gefühl des Absurden. Der Mensch stellt sich die Frage, ob sein Leben lebenswert ist und der Selbstmord wird bei Philosophen wie Albert Camus zum zentralen Gegenstand des Denkens. Kanitscheider hält dem entgegen:
„In dem Gefühl der Absurdität ist die passive Haltung kodifiziert, dass der Sinn einem gleichsam zustoßen müsse, sich aus der Welt heraus aufdrängen sollte, auf einen zukommen müsse wie ein hilfreicher Freund. Gebraucht wird jedoch die Initiative des Handelnden, er muss aus seinem Impetus auf die Welt zugehen.“
Der Sinn des Leben ergibt sich demnach also aus dem Leben selbst. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht und wer „sich selbst auferlegte Aufgaben als Gestaltung der Lebenszeit“ unterwirft, immunisiert sich vor der pathologischen Sinnsuche und dem Gefühl des Absurden. Kanitscheider bemüht hierfür als Vorbild Albert Einstein und dessen oft falsch interpretierte „kosmische Religiosität“ (Einstein war seit seinem 17 Lebensjahr konfessionslos).

Zwei modernen „Denkern“ widmet Bernulf Kanitscheider in seinem Buch je ein eigenes Kapitel. Da wäre der Theologe Hans Küng, über dessen Seichte Variante kosmischer Religiosität sich der Autor genau so ärgert, wie über den Philosophen Jürgen Habermas, der den Theologen eigene Denkbereiche überlassen will, die ein säkularer Philosoph gefälligst zu meiden hat - eine Art Gartenzwergphilosophie, bei der jeder Gärtner nur friedlich auf gut Nachbarschaft in seinem eigenen Garten jähtet, auf dass es keinen Streit gibt. Solche Denkzäune kann kein ernstzunehmender Philosoph akzeptieren. Kanitscheider warnt seine Kollegen der denkenden Zunft:
„Gerade weil sich die Vertreter der Religion auf angeblich intangible Wahrheitsgarantien zurückzogen, konnten sie, von hohem Wahrheitsethos getragen, alle Grausamkeiten der Glaubensausbreitung rechtfertigen.“
Noch ärgerlicher als Habermas Selbstkastration ist „Hans Küngs Reise durch den Kosmos“. In seinem unglaublich schlechten Buch Der Anfang aller Dinge - Naturwissenschaft und Religion versucht er mit viel theologischer Poesie die Erkenntnisse der Wissenschaft auf eine metaphysische Sinnbasis zu stellen, die irgendwie auf die Vorsilbe „Ur“ gebaut ist: Urgrund, Urgehalt, Urziel, Urgeheimnis. Irgendetwas Wichtiges will uns Hans Küng mitteilen und umkreist dabei die Wirklichkeit doch nur wie ein Schlangenbeschwörer den verschlossenen Korb: mit viel enervierenden Flötenlärm. Wie bei Theologen so üblich, weicht aber dieser diffuse Nebel sofort, wenn es um das Familienoberhaupt Gott geht. Hier weiß Herr Küng so sicher zu berichten, als wäre er gerade von einer Konferenz der Unsterblichen herabgestiegen, die sicherlich auf irgendeinen Berg in der Wüste der unter Religion unermesslich leidenden Menschen des Nahen Ostens stattfand.
„So kann man wohl zu keinem anderen Schluss kommen, als dass die Sinnkonstitution, wie sie auch die modernste und liberalste Theologie versucht, nicht mit den üblichen methodologischen Regeln der allgemein akzeptierten Wissenschaft im Einklang steht. […] Auch wenn der Wunsch nach einer sinnstiftenden Instanz noch so stark ist, bringt es keinen kognitiven und keinen emotionalen Nutzen, die im übrigen Leben praktizierten intellektuellen Verfahren zu opfern.“
 So lautet das Fazit Kanitscheiders über diesen misslungenen Versuch, das Universum metaphysich neu aufzuladen.

In dem vorletzten Kapitel „Die Feinabstimmung des Universums – ein neues metaphysisches Rätsel?“ führt Kanitscheider nochmals die Aussichtslosigkeit vor, durch eine vermeintliche Lücke der naturalistischen Welterklärung einen göttlichen Ordner, einen Uhrmacher 2.0, einzuführen. Bei diesem Rätsel geht es um die Frage, warum die Naturkonstanten - und somit die Stärke der Kräfte in der Natur - gerade so sind, dass die Entstehung von Leben in diesem Universum möglich ist. Dieses spannende Rätsel bleibt ungelöst, auch wenn es Ansätze zu seiner Lösung gibt, wie beispielsweise die Viele-Welten-Theorie. Beim Lesen dieses Kapitels wird aber nochmals klar, dass die Suche nach Lösungen für Rätsel viel spannender ist, als ihre theistische Deutung und damit Verdrängung. Dieses Kapitel will ich aber auch deshalb extra erwähnen, weil es technisch das bei weitem anspruchsvollste ist und daher nicht so recht zum übrigen Buch passt, das weitestgehend voraussetzungslos gelesen werden kann. Hier der Trost: Wer dieses Kapitel überspringt verpasst kein wesentliches Argument.

Das nachfolgende Kapitel „Leben in einem sinnleeren Universum“ nimmt dann wieder den Gedankengang auf:
„So müssen wir denn auch nach dem vorstehenden Hypothesenvergleich der Erklärungen für die Besonderheit unseres Universums konstatieren, dass ein objektivierbarer kosmischer Sinn nicht zu fassen ist. Er entschwindet jedes Mal, wenn man ihm auf der Spur zu sein scheint. Der Wunsch ist heftig, und daraus erklären sich auch die verschlungenen Wege, auf denen nach einer greifbaren faktischen Verankerung für die Lebensorientierung gesucht wir.“
Der Autor empfiehlt einen Wechsel des Bezugssystems: Das Leben – sowohl das individuelle, als auch das Leben als solches - sollte man nicht vom Ende her sehen, sondern gegenwärtig auf die Sinne fokusiert sein. Er bemüht dafür den Hedonismus Aristippos und die auf Seelenfrieden angelegte Variante Epikurs.

Ein bisschen erinnert das an Monty Pythons monumentalen Werk „Meaning of Life“. Nachdem man sich durch einen langen, teilweise anstrengenden Film durchgesehen hat, wird der Sinn am Ende ganz profan aufgelöst: „Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen, lesen Sie ein paar gute Bücher, machen Sie Spaziergänge.“ Nicht so lustig, aber dafür sehr gut begründet, empfiehlt Bernulf Kanitscheider letzlich eine ähnliche metaphysische Bescheidenheit gepaart mit einer Achtsamkeit gegenüber den Nächsten - und darüber hinaus empfiehlt er Humor und Hochgebirgswanderungen.



Das Buch von Bernulf Kanitscheider ist keine leichte Kost für Leser, die wenig Erfahrung mit dem eigentümlichen Schreibstil von Philosophen haben. Der Autor, bzw. sein Lektor, gehen auch davon aus, dass die Leser alle toten und lebenden Weltsprachen von Altgriechisch bis Spanisch beherrschen, weshalb sie Zitate einfach nicht übersetzt haben. Dennoch lohnt sich das Buch, denn die Schwierigkeit beim Lesen resultiert meist auf eine den Philosophen eigene Verdichtung des Gedankens. So bleibt das Buch übersichtlich und kompakt und der Leser kann getrost dem Rat des Autors folgen und sich „die philosophische Krankheit der Sinnsuche wenigstens für eine kurze Weile leisten, um dann mit mehr Vertrauen und Gelassenheit zur nüchternen Alltagswelt zurückzukehren.“

1 Kommentar:

  1. Hmmm.... Schon der zweite innerhalb weniger Tage der einem dieses Buch anempfiehlt. Da sollte ich doch mal einen näheren Blick reinwerfen, glaub ich.

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