Wer hat es erfunden? Nein, es waren nicht die Schweizer. Die Tradition beim Start einer Rakete von zehn nach null runterzuzählen geht auf den Regisseur Fritz Lang zurück. Für den Start seiner Rakete im Spielfilm Frau im Mond benötigte er ein dramatisches Moment. Das Rückwärtszählen hat den Vorteil, dass jeder weiß, wann der Countdown endet und so kann jeder dem entscheidenden Moment entgegenfiebern.
Natürlich war die Rakete im Spielfilm nur ein Modell. Da Fritz Lang sie aber möglichst realistisch darstellen wollte, engagierte er den Raketenforscher Hermann Oberth als technischen Berater. Dieser bekam sogar eine Werkstatt auf dem UFA-Gelände, um für Werbezwecke eine echte Rakete zu bauen.
Diese Rakete wurde aber nicht vollendet. Hermann Oberth gelang es nie, eine funktionstüchtige Rakete zu bauen. Er inspirierte mit seinem Grundlagenwerk Die Rakete zu den Planetenräumen vielmehr eine ganze Generation jüngerer Physiker und Ingenieure, darunter auch den Vater der Mondrakete Wernher von Braun.
In der Einleitung dieses Werkes stellt Hermann Oberth vier Postulate zur Zukunft der Raumfahrt auf:
1. Es ist möglich eine Maschine zu bauen, die die Erdatmosphäre unter sich lässt.
2. Diese Maschine kann in einen Orbit um die Erde eintreten und diesen Orbit sogar verlassen.
3. Menschen können mit dieser Maschine reisen.
4. Das Ganze kann sich wirtschaftlich lohnen.
Alle vier Punkte haben sich heute bewahrheitet.
Das Buch Die Erfindung des Countdowns des Physikers und Schriftstellers Daniel Mellem erzählt das Leben Hermann Oberths in Romanform nach. Er bringt seinen Lesern damit einen der Väter der Raumfahrt nahe, der immer im Schatten der großen Projekte der NASA und seinem berühmten Schüler Wernher von Braun stand.
Schon als Junge entwickelt Hermann Oberth die Idee einer flüssigkeitsgetriebenen Rakete. Anders als mit Feuerwerksraketen, die einen Feststoff verbrennen, sollte es mit ihr möglich sein, den Mond zu erreichen. Dieses Ziel verfolgt Hermann Oberth Zeit seines Lebens gegen alle Widerstände aus Familie, Gesellschaft und Politik. Im Roman wird er dadurch als zwiespältige Figur gezeichnet: Er ist ein Besessener und sehr einseitig begabter Mensch; aber besessen von der richtigen Sache. Am Ende des Romans erleben wir ihn auf der Zuschauertribüne beim Start von Apollo 11 auf deren Flug zum Mond.
Bis dahin ist ein weiter Weg. Der aus Siebenbürgen stammende Hermann Oberth muss im ersten Weltkrieg auf der Seite Österreich-Ungarns kämpfen. Das Grauen des Krieges bringt ihn auf die Idee, die Rakete als Waffe einzusetzen. Mit ihr wäre es möglich, den Krieg dahin zu tragen, wo er begonnen wird, nämlich in die Paläste der Politiker und Generäle. Das würde Kriege unmöglich machen. Mit dieser Idee nimmt Hermann Oberth die Idee des Gleichgewichts des Schreckens vorweg.
Nach dem Krieg verzichtete Hermann Oberth darauf in die Fußstapfen seines angesehenen Vaters zu treten und Arzt zu werden. Er will Physik studieren und über seine Ideen zur Raumfahrt an der Universität forschen. Dazu begibt er sich nach Göttingen und später nach Heidelberg. Seine Dissertationsschrift über die Rakete zu den Planetenräumen stößt aber an beiden Universitäten auf wenig Verständnis. Die Ideen sind zu ungewöhnlich und die Vorgehensweise Oberths passt nicht zur Art und Weise, wie an der Universität geforscht wird. Man ist sich nicht einmal einig, welchem Fachgebiet die Rakete im Universitätsbetrieb zuzuordnen ist.
Mit leeren Händen kehrt Hermann Oberth nach Rumänien zurück, zu dem Siebenbürgen seit Ende des ersten Weltkrieges gehört. Immerhin hat er von dem Heidelberger Astronomen Max Wolf den wertvollen Tipp erhalten, seine Dissertation einfach als Buch drucken zu lassen. So erblickte das Grundlagenwerk Die Rakete zu den Planetenräumen das Licht der Welt. In Deutschland hatte sich längst eine gewissen Raketenbegeisterung unter jungen Forschern breit gemacht. Der Astronom und Schriftsteller Max Valier machte durch spektakuläre Aktionen auf die Raketentechnik aufmerksam, der Ingenieur Wernher von Braun lies sich auf die Wehrmacht ein, um seinen Traum von einer funktionierenden Rakete zu verwirklichen, der bereits erwähnte berühmte Regisseur Fritz Lang nutze die Raketenbegeisterung für seinen großen Film. Für alle war Hermann Oberth der „Professor“, der mit seinem Grundlagenwerk die Blaupause ihrer Zukunftsträume lieferte.
Schon vor seinem Studium heiratete Hermann Oberth und zeugte mit seiner Frau Tilla das erste von vier Kindern. Im Roman stellt sie mit ihrer pragmatischen, dem Leben zugewandten Charakter einen Kontrast zu der Fixierung Hermann Oberths auf sein Lebensthema dar. Stellvertretend für den Leser ist sie es, die Hermann Oberth die Leviten liest, wenn er in seinem Leben zweifelhafte Entscheidungen trifft, sich dem Nationalsozialismus zuwendet, sich in Parapsychologie und Ufologie verliert. Die Frau als Korrektiv für den auf seine Arbeit fixierten, gefühlskalten Mann, ist ein Klischee, das in diesem Roman fleißig bedient wird. Im Leben vom Tilla und Hermann war dieses Klischee vielleicht einfach nur Wirklichkeit.
Letztlich lebt Tilla ein entbehrungsreiches Leben an der Seite eines Mannes, der von einer Idee getrieben ist, die wenig Platz für sein Umfeld lässt und seiner Familie nicht die soziale Sicherheit bietet, die sie haben könnte. Die Befreiung aus dieser Enge gelingt Tilla erst spät. Wenn das Paar später bei Wernher von Braun in Huntsville, Alabama, lebt, ist sie es, die mit dem großen Auto Amerika bereist, während er weiter in einem stickigen Büro mit Bleistift und Papier Zukunftspläne schmiedet.
Der Roman stellt Hermann Oberth als tragischen Helden vor. Mit seinem Werk erreicht er zwar die jungen Wissenschaftler, selbst kann er aber nichts mehr bewirken. Er dient populären Figuren wie Fritz Lang, Max Valier und später auch Wernher von Braun als Aushängeschild, wird aber in der akademischen Welt nicht ernst genommen. Als ein Agent der Sowjetunion versucht Hermann Oberth für das sowjetische Raketenprogramm zu gewinnen, wird man in Deutschland allerdings hellhörig. Hermann Oberth wird von nun an durch lukrative Pöstchen kaltgestellt, erst an der Universität Wien, dann im Forschungszentrum Peenemünde. Hier arbeiten die jungen Wissenschaftler an der ersten funktionstüchtigen Rakete – eine Kriegswaffe – während der alte Professor Hermann Oberth in einem kleinen Büro unnütze Expertisen erstellt.
Der Roman Die Erfindung des Countdowns stellt Hermann Oberth auf eine Art und Weise vor, wie es kein Sachbuch könnte. Inwieweit das innere Erleben der Romanfigur der realen Person gerecht wird, bleibt unbekannt. Die Romanform erlaubt es uns Lesern aber wesentlich intensiver die Gedanken Hermann Oberths und den Geist seiner Zeit nachzuempfinden – unterhaltsamer als ein Sachbuch ist der Roman allemal.
Bibliografische Angaben: Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns, München, dtv, 2020, ISBN 978-3-423-28238-3
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