Der Physiker Martin Bojowald hat in seinem neuen Buch "Zurück vor den Urknall - Die ganze Geschichte des Universums" ein kleines Zwischenkapitel eingeschoben, über das ich hier gerne berichten möchte. Über das Buch selbst werde ich später schreiben. Das Kapitel "Zwischenbemerkungen zur Rolle der Mathematik" entand vermutlich aus einem Dilemma, vor dem der Theoretische Physiker Martin Bojowald beim Schreiben seines Buches stand. Einerseits stellt er die Frage "Verstehen wir die Welt wirklich, wenn wir sie nicht ohne die Voraussetzungen eines langjährigen Studiums erklären können?" *). Andererseits benutzt er für seine eigenen Forschungen fortgeschrittenen Methoden der Mathematik, die sich eben nicht einfach sprachlich vermitteln lassen, sondern im jahrelangen Studium erlernt werden müssen.
Warum aber überhaupt Mathematik in der Physik?
"Die Mathematisierung der Physik seit Galileo Galilei ist für deren beispiellosen Erfolg verantwortlich [...] Die Mathematik ist, nach Galilei, die Sprache der Natur und zu deren Verständnis notwendig." Galileo Galilei erkennt die Notwendigkeit Messungen durchzuführen und diese in mathematische Gesetze zu gießen. Diese Gesetze erlauben es dann Vorhersagen zu treffen, so dass fortan nicht mehr der Augenschein oder das bloße Meinen die Vorhersagen bestimmen, sondern das auf Experimenten beruhende Naturgesetz.
Mit dem folgenden Satz geht Martin Bojowald aber noch einen Schritt weiter: "Ohne Mathematik ist die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur auf die direkt durch Sinneswahrnehmung zugänglichen Objekte beschränkt." Mathematische Formeln in der Physik liefern also nicht nur einen mathematischen Werkzeugkasten zur Lösung von Problemen, sie dienen auch dazu unseren Mesokosmos zu erweitern. Begriffe wie Raum-Zeit oder die als Wellenfunktionen beschriebenen Elementarteilchen sind nicht sinnlich erfahrbar. Es sind mathematische Konstrukte, deren Manipulation aber im günstigen Fall zu messbaren Aussagen führen. Bojowald schildert dies schön am Beispiel der relativistischen Erweiterung der Quantenmechanik. Ein zentrales mathematisches Gebilde in der Quantenmechanik ist die Schrödinger-Gleichung. Elementarteilchen werden durch Wellenfunktionen beschrieben, die Lösungen der Schrödinger-Gleichung sind. Dank der relativistischen Erweiterung der Quantenmechanik durch Paul Dirac gibt es aber nun zu jeder Lösung der Schrödinger-Gleichung zwei Lösungen der Dirac-Gleichung. Dieser Umstand veranlasste Paul Dirac die Existenz der Antimaterie vorauszusagen. In den Worten Martin Bojowalds: "Dirac sagte so die Existenz einer neuen Welt von Erscheinungen der Materie vorher, allein durch seine mathematische Kombination von Spezieller Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Für jedes bekannte Teilchen wie dem Elektron sollte ein Antiteilchen gleicher Masse, aber entgegengesetzter Ladung existieren."
Mathematik als Selbstzweck
Das Ziel der Physik ist es nicht Mathematik zu betreiben, sondern die Natur zu beschreiben. Mathematik-Fetischismus ist hier fehl am Platz:
"Ich bezeichne als Mathematik-Fetischismus die Tendenz, mathematische Konstruktionen des menschlichen Hirns mit einem unabhängigen Leben und mit einer eigenständigen Macht auszustatten." (John Stachel in 100 Years of Relativity, zitiert aus *))Theorien, die sich derzeit nur schwer prüfen lassen, haben die Tendenz, sich der Forderung nach experimenteller Überprüfung zu entziehen. "Gerade in jüngster Zeit wird die Mathematik aber auch oft zum Selbstzweck innerhalb der Physik - vor allem in der Forschung zur Quantengravitation, die derzeit noch keinen kontrollierenden Beobachtungen unterworfen ist." Mathematische Konsistenz ist dann das einzige Gütekriterium. Da aber Konsistenz schwer zu beweisen ist, tritt an ihrer Stelle "der Begriff der Schönheit einer Theorie hinzu."
Martin Bojowald zitiert zu diesem Problemkreis aus Die fröhliche Wissenschaft von Friedrich Nietzsche:
"Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese andre Welt bejaht, muß er damit nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt unsre Welt - verneinen"Missbrauch des Unendlichen
Ein weitere Aspekt, den Martin Bojowald in seiner Zwischenbemerkung zur Rolle der Mathematik betont ist der problematische Umgang mit denjenigen Bedingungen, in denen die Mathematik gewissermaßen kollabiert. In solchen sogenannten Singularitäten streben die physikalischen Größen gegen unendlich. "Der Begriff des Unendlichen ist eine gefährliche Waffe in manchen mathematischen Argumenten, und so verwundert es nicht, dass er gelegentlich missbraucht wird." Als Beispiel dient ihm der berühmte Wettlauf des Hasen mit dem Igel. Der langsame Igel bekommt fünfzig Meter Vorsprung zugestanden. Hat der flinke Hase diesen Startpunkt des Igels erreicht, so ist der Igel sagen wir mal fünf Meter weiter gekommen. Erreicht der Hase diesen Punkt, ist der Igel fünfzig Zentimeter vorangekrochen. Der Hase kann den Igel nicht einholen, wenn man diese Unterteilung des Intervalles ins Unendliche fortführt. Wer so argumentiert missbraucht den Begriff des Unendlichen. "Mathematisch gesprochen unternimmt er eine Koordinatentransformation, in der der endliche Zeitpunkt des Einholens auf einen unendlichen Wert der neuen Zeit abgebildet wird. Sein Argument findet dann in der neuen Zeit statt, in der der unendliche Wert in der Tat nie erreicht wird. Er übersieht aber oder will uns dazu verleiten, dass in der tatsächlichen Wahrnehmung des Wettlaufs die ursprüngliche Zeit den Ausschlag gibt, in der das Überholen in endlicher Dauer abläuft." Ein ähnliches Argument begegnet einem gelegentlich, wenn es um die zeitliche Annäherung an die Urknall-Singularität geht. Die Frage, was vor dem Urknall war, wird ad absurdum geführt, in dem man sich im Stile des Hasen diesen Zeitpunkt nähert. Für Martin Bojowald ist die Urknall-Singularität aber kein Problem der Natur, sondern ein Versagen der Theorie. Das ist das Thema seines Buches und davon später mehr.
*) Alle Zitate, soweit nicht anders angegeben, von Martin Bojowald aus "Zurück vor den Urknall", S.Fischer-Verlag 2009
Nun ja, Mathematiker erleben es gleich morgens beim Aufstehen, dass sich die Welt mit Mathematik nicht erklären und schon gar nicht beherrschen lässt.
AntwortenLöschenEs ist auch schon seit einiger Zeit klar, dass ein Teilchen, (oder sagen wir Achilles, oder der Hase) sich nicht unter Zeitverbrauch von A nach B bewegt, indem zu Zwischenzeiten Zwischenorte passiert werden, jedenfalls nicht ad infinitum ...
Und Zenon (Urheber des Arguments) war Grieche. Und für die (antiken) Griechen ist Zeit nicht eine Menge von Stunden, die sich beliebig in kleinere Zeiteinheiten unterteilen lassen, sondern Schicksal.
Diesem Argument jetzt zu unterstellen, es habe sagen wollen, Achilles begehe jeweils Handlungen die dann ein neues Zeitmass (mit absonderlichem Transformationsverhalten) abgeben, hiesse doch tatsächlich zu glauben, Zenon habe beweisen wollen, dass Achilles die Schildkröte wirklich nicht überhohlen kann.
ts...ts...ts...
In dem Argument geht es nicht um Zenon. Deswegen habe ich ihn auch nicht erwähnt. Es geht um einen problematischen Umgang mit dem Begriff des Unendlichen, mit dem das unangenehme Problem der Singularität scheinbar umgangen werden soll. In dem Buch wird dies aber ausführlicher dargestellt und dabei auch der richtige historische Kontext hergestellt.
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