Robinson auf dem Mars

Die Mission Ares 3 ist bereits die dritte erfolgreiche Landung von Astronauten auf dem Mars. Die Expedition hat sich erst seit wenigen Tagen eingerichtet, als ein fürchterlicher Staubsturm sie zur fluchtartigen Rückkehr zur Erde zwingt. Beim schnellen Sprint zum Rückkehrmodul wird einer der Astronauten von einem herumwirbelnden Antennenmast schwer getroffen. Im dichten Staubsturm ist er nicht mehr zu sehen, seine Biosignale melden Deadline und außerdem droht das Rückkehrmodul im Sturm umzukippen. Die restliche Crew startet also zu dem im Orbit wartenden Raumschiff Hermes, das sie wieder zurück zur Erde bringen soll. Was sie nicht wissen, ist, dass der zurückgelassene Kamerad nicht tot ist.
Dies ist der Ausgangspunkt der Robinsonade Der Marsianer. Allein auf sich gestellt muss der Astronaut Mark Watney auf dem Mars überleben, irgendwie und so lange wie möglich.
Aber was heißt schon "allein"? Die Menschheit ist dort längst omnipräsent. So entdecken die wissenschaftlichen Marsorbiter - von denen erst vor ein paar Tagen wieder zwei neue am Mars eingetroffen sind - schnell, dass sich auf der vermeintlich verlassenen Basis von Ares 3 etwas tut. Irgendwer bewegt da die Rover und hantiert mit Solarzellen. Mark Watney versucht ein anderes Symbol der Gegenwart des Menschen auf dem Mars mit einem Rover zu erreichen, nämlich die Mars Pathfinder Station mit dem kleinen berühmten Roboter Sojourner. Dessen Funktechnik will er verwenden, um wieder Kontakt mit der Erde aufnehmen zu können. Das klappt auch und bei der NASA bricht hektische Planungsaktivität aus, wie man den gestrandeten Astronauten am Leben erhalten und nach Hause holen kann.

Als Daniel Defoe im Jahre 1719 seinen Robinson Crusoe schrieb, schwebte im keine Südseeromantik vor, nicht die schönen Bilder aus dem Paradies, wie wir sie aus den Verfilmungen kennen. Die Idee des Romans ist ein Gedankenexperiment: Was passiert, wenn der zivilisierte Mensch mit nur wenig verbliebenen Ausrüstungsgegenständen der Wildnis ausgesetzt wird? Da sich Defoe den Menschen seiner Zeit als aufgeklärten Menschen wünschte, zeigte er am Beispiel Crusoes, wie sich der vernünftige Mensch dank rationalem Handeln aus jeder noch so aussichtslosen Miesere befreien kann. Dieser Geist durchweht auch Der Marsianer. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen so dermaßen technischen Roman gelesen habe. Statt ob seiner Lage zu verzweifeln, rechnet uns Mark Watney ständig vor, wie viele Tage die Nahrungsration noch ausreicht, wie viele Kartoffeln er anbauen muss, um diese Zeit so lange zu strecken, dass es für eine Rettungsmission reicht, wie viel Erde (Humus) er dazu produzieren muss (dank nützlicher Bakterien aus dem menschlichen Darm), wie viel Wasser er dafür braucht, wie viel Hydrazin (Raketentreibstoff) er dafür zu Wasser umwandeln muss und wie genau das chemisch alles funktioniert. Solche Dreisatzrechnungen und Einblicke in die technischen Lebenserhaltungssysteme durchziehen das ganze Buch. Dabei gelingt es dem Autor Andy Weir stehts auf einem nachvollziehbaren Level zu bleiben und seine Leser nicht zu überfordern. Man hat wirklich das Gefühl, mit Mark Watney mitzudenken und alles zu verstehen.

Wie bei Defoe ist auch hier auch von Romantik keine Spur. Mit keinem Wort schildert der Astronaut seine Eindrücke von der Marslandschaft. Für Emotionen bleiben dem Astronauten in seiner misslichen Lage wenig Zeit. Gefühle werden nur lapidar erwähnt oder mit viel Sarkasmus zur Seite geschoben ("Ich bin so was von im Arsch"). Statt in tiefsinnige Reflexionen zu verfallen, die einem im Angesicht des Todes kommen könnten, betäubt sich der Astronaut nach seinen notwendigen Verrichtungen mit Disco-Musik und Fernsehserien aus den Siebzigern. Vielleicht ist das eine Botschaft des Autors: Man kann nur funktionieren, wenn man emotional oberflächlich bleibt. Vielleicht stellt sich Andy Weir einen Astronauten eben genau so vor oder vielleicht wollte er eben nicht die Geschichte eines nachdenklichen Todgeweihten erzählen, sondern einfach ein Buch über Raumfahrt schreiben.

Über fünfhundert Seiten zieht sich der Kampf ums Überleben und das Bemühen um Rettung. Damit das nicht langweilig wird, springt der Autor in seiner Geschichte zwischen drei Orten und den dort handelnden Personen: Die Story spielt natürlich auf dem Mars, aber auch auf der Erde bei der NASA und auch im Raumschiff Hermes. Die vom Mars entkommenen Astronauten erfahren nämlich von ihrem "Fehler" und wollen natürlich am liebsten umkehren, um den Kollegen zu retten, was aber technisch nicht so ohne weiteres möglich ist - und natürlich sind die Chinesen mit von der Partie. Collagen, in denen der Autor verschiedene Personen und Handlungsorte in einer Szene vereint, machen die Geschichte raffiniert und schnell.

Wie und ob überhaupt die Rettung gelingt, sei hier natürlich nicht verraten.

Mir persönlich gefällt das Buch außerordentlich gut, auch wenn es dem nicht unberechtigten Vorurteil Vorschub leistet, die Sciencefiction-Autoren kümmern sich zu wenig um die Innerlichkeit ihrer Charaktere. Andy Weir lässt uns nicht allzu tief in das Gefühlsleben seiner Personen blicken, doch sind seine Figuren auch keine platten Abziehbilder. Es sind Individuen, die wir so gut kennen lernen, wie es für die Geschichte notwendig ist.

Gut gefällt mir das Buch, weil es uns in Form einer technischen Sciencefiction mit dem größten Abenteuer konfrontiert, das der Menschheit ganz real offen steht: Die Erkundung unseres Sonnensystems. Ganz ohne Pathos und unnötiger Schnörkel werden wir in eine Geschichte einer möglichen nahen Zukunft gezogen, die ihre Spannung aus einer einzigen Frage zieht: Überlebt Mark Watney oder wird er der erste Tote Mensch auf dem Mars sein?

Literatur: 
Andy Weir 
Der Marsianer 
Heyne-Verlag, 2014

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